Achtsamkeit für Läufer: Ein Interview mit Maik Becker
Seit mehr als 20 Jahren betreibt Maik Becker Ausdauersport und liebt es, in fremde Welten einzutauchen und sich fernab befestigter Straßen exotischen Laufabenteuern zu stellen. In seinem neuen Buch „Mindfulness für Läufer. Bewusster Laufen für mehr Leistung und Lebensfreude“ nimmt Maik Becker seine Leser jetzt mit auf eine Reise in die Welt des achtsamen Laufens. Was durch die Verbindung von Geist, Körper und Umgebung verändert wird, warum Achtsamkeit für uns Läufer besonders wichtig ist und welche Übungen wir unbedingt mal ausprobieren sollten, erfährst du in diesem Interview – und natürlich in seinem Buch.
Ultraläufer, Extremsportler und Autor Maik Becker beim Hell Race auf 5000m
RUNTiMES: Was war das zuletzt größte Laufabenteuer deines bisherigen Lebens?
Maik Becker: Mein bisher größtes Laufabenteuer war definitiv das Hell Race 480 im indischen Himalaya, das ich in diesem Jahr erfolgreich absolvieren konnte. Es handelt sich dabei um einen 480 Kilometer langen Non-Stopp-Lauf auf dem Leh-Manali-Highway über den Hauptkamm des Himalaya. Die Straße liegt im Schnitt konstant über 4‘000 Metern Höhe. Fünf extrem fordernde Pässe mit bis zu 5‘340 Metern sind dabei zu bewältigen. Die Läufer kämpfen mit dünner Luft, unendlich langen Anstiegen, unberechenbaren Witterungsbedingungen und ihrem eigenen körperlichen und noch viel mehr mentalen Zustand.
Non-Stopp-Lauf bedeutet: die Zeit läuft, ob, wann und wo man schläft, liegt in der Entscheidung des Läufers. 120 Stunden stehen als Zeitlimit zur Verfügung. Ich konnte als fünfter Teilnehmer überhaupt (während der vergangenen acht Austragungen) diesen Monsterlauf im geforderten Zeitfenster zu Ende bringen. Und habe das Rennen 2025 nach etwas mehr als 109 Stunden gewonnen.
Diese Tage in der Abgeschiedenheit der Berge haben mir nicht nur läuferisch, sondern auch persönlich extrem viel abverlangt. Es bleibt viel Zeit zur Beschäftigung mit dir selbst. Körper und Psyche beginnen einen Dialog der Extreme. Die Muskeln brennen, die Gelenke protestieren, doch der Geist gibt immer wieder Willenskraft frei – über Schmerzgrenzen hinweg, durch Schlafmangel und Stille.
Die Psyche taumelt zwischen Euphorie und Dunkelheit, zwischen Träumen im Gehen und Klarheit im Moment. Man verliert sich, um sich neu zu finden. Der Körper wird müde, die Seele wach. Und irgendwo zwischen dem Start und den finalen Kilometern wächst etwas in dir heran, das stärker ist als Erschöpfung: eine tiefe innere Zufriedenheit, geboren aus der Stille, die entsteht, wenn alles Überflüssige von dir abfällt.
Maik Becker auf dem Leh Manal Highway beim Hell Race
Dieses Rennen hat mir gezeigt, was möglich ist, wenn man körperliche Vorbereitung mit mentaler Stärke und Leidenschaft verbindet.
Warum man sich so etwas antut? Grundsätzlich stelle ich mir diese Frage nicht. Die Antwort wäre zu einfach: Ein 480 Kilometer Lauf ist mehr als ein physischer Kraftakt – es ist ein Auflösen dessen, was man für Grenzen gehalten hat. Der Körper kämpft, leidet, trägt dich weiter, obwohl alles in dir schreit, stehenzubleiben.
Die Psyche wird auf die Probe gestellt, Tag für Tag, Stunde für Stunde – bis nur noch der pure Wille bleibt. Und irgendwann, jenseits der Erschöpfung, wenn alles fokussiert ist auf den nächsten Schritt, die nächste Mahlzeit, das nächste Stück Weg – genau dort entsteht eine seltsame Klarheit.
Ich tue das nicht, um anzukommen. Ich tue es, weil ich lebe. Weil ich es liebe. Weil ich alles fühle – Schmerz, Freude, Zweifel, Weite. Weil in diesen Momenten der völligen Reduktion etwas passiert, das im Alltag verloren geht: absolute Freiheit. Kein Lärm, keine Ablenkung, nur der Weg und ich. Das Leben dreht sich für einen Moment nur um das Wesentliche – das Sein im Jetzt.
RUNTiMES: Es gab auch eine Zeit, in der Sport keinen Platz in deinem Leben hatte – wie und wann kamst du zurück zum Laufen?
Maik: Mit einem Grundsatzerlebnis, das nun bereits zwanzig Jahre zurückliegt. Eines dieser ungeahnten Ereignisse, die das Leben an Überraschungen bereithält. Nach Jahren gesundheitlicher Probleme verirrte ich mich wieder einmal zum Arzt. Schlafmittel sollten es dieses Mal richten. Mein Körper war aus dem Gleichgewicht. Während mich tagsüber immer wieder ein Tiefschlaf übermannte, lag ich nachts wach. Das muss doch mit entsprechenden Medikamenten zu richten sein. Die Reaktion des Medikus war überraschend. Während eines 30-minütigen Monologs wies er mich auf meine Verfehlungen der vergangenen Jahre hin.
Maik Becker beim Amazean Ultra Trail
Gefangen im Arbeitsalltag, übergewichtig, depressiv. Immer mit dem Gefühl, unabkömmlich zu sein. Freude und Zufriedenheit waren käuflich. Die Leistung im Job stand stets an erster Stelle. Privat blieb in dieser Zeit so einiges auf der Strecke. Und dann, mit Mitte 30 sitze ich meinem Hausarzt gegenüber, der mir den Spiegel vorhält. Was muss sich ändern?
Er empfiehlt Sport. Als Ausgleich und um die Gesundheit zu stärken, z.B. Schwimmen zum Aufbau des schwachen Rückens. Letzte ernst zu nehmende Aktivitäten lagen lange zurück. Seit dem Schulsport hatte ich erfolgreich darauf verzichtet. Das Leben in vollen Zügen genossen. Mit allem Ungesunden, was dazugehört.
Mein Gewicht kratzte an der dreistelligen Schallmauer. Ein Weckruf. Der Raubbau an Körper und Geist soll ein Ende haben. Von diesem Schlüsselerlebnis beim Arzt ging ich einen Monat täglich ins Schwimmbad. Zu exzessiv? Vielleicht bereits ein Hinweis, wohin mich der Sport später noch bringen soll. Beim ersten Besuch im nahen Hallenbad stieg ich nach vier Bahnen, also 200 Metern völlig erschöpft aus dem Wasser. Nach einem Monat waren es bereits 2‘000 Meter. Die körpereigenen Brennstoffzellen erinnerten sich, wie Energie bereitgestellt werden kann.
Neben der physischen Veränderung stellte ich aber noch etwas ganz anderes fest. Mein Geist wurde wiedererweckt. Positive Gedanken und ein klares Denken waren das Resultat. Mein Selbstwertgefühl war plötzlich wieder ein anderes. Ich konnte mein Leben und Umfeld bewusster wahrnehmen. Zudem verbesserte die sportliche Betätigung die Stimmung. Und die positiven Effekte der Bewegung reichten noch viel weiter. Kurz umschrieben: ich war für mein Umfeld, und noch viel mehr für mich selbst, wieder ertragbar.
Das Schwimmen hatte nur einen Nachteil. Ich verlor kaum Gewicht. Sicher auch ein Resultat aus Fettverbrennung und Muskelaufbau. Beim Treppensteigen lief mir immer noch der Schweiß. Der Körperwandel war noch am Anfang. Um diesen Prozess zu beschleunigen, musste die nächste Stufe gezündet werden. Laufen wäre gut für Gewichtsreduktion, hatte ich gelesen. Und von da an hatte es mich gepackt.
RUNTiMES: Warum ist dir das Thema „Achtsamkeit“ als Sportler wichtig geworden?
Maik: Sport betrachte ich im weitesten Sinne als natürliches Mittel, um Körper und Geist gesund zu halten. Wir sind in der Evolution auf Bewegung getrimmt. In Gefahrensituation gilt die Devise: angreifen oder weglaufen. Für beides müssen wir entsprechend fit sein.
Nur hat sich unser Alltagsleben mittlerweile verändert. Dieser Urtrieb ist nicht mehr zwingender Bestandteil unseres Alltags. Und um uns das Leben immer einfacher zu gestalten, haben wir uns Hilfsmittel geschaffen, die die Bewegung zusätzlich reduzieren. Wir schätzen Mobilitätslösungen wie Auto, Bahn oder Flugzeug, um von A nach B zu kommen. Nutzen Rolltreppen und Aufzüge als Erleichterung, anstatt Treppen zu steigen. Wir haben uns im Laufe der Zeit viele technische, digitale und infrastrukturelle Hilfsmittel angeeignet, um unser Leben komfortabler, effizienter und sicherer zu machen – doch viele davon führen im Gegenzug dazu, dass wir uns weniger bewegen und damit unsere körperliche Gesundheit vernachlässigen.
Sich immer schneller verändernde Prozesse und Technologien im Alltag erfordern einen Gegentrend, der gern auch als Entschleunigung bezeichnet wird.
Maik Becker nachdenklich beim Hell Race
Chronischer Stress, ob im Beruf oder im Privatleben, bestehende Erwartungshaltungen der Gesellschaft, negative Nachrichten aus aller Welt, soziale Isolation trotz sozialer Medien oder falsche Wertevorstellungen sind nur einige Beispiele von Einflussfaktoren, mit denen wir uns tagtäglich auseinandersetzen. Zum Gegensteuern bleibt dann oft nur der Gang zum Arzt. Oder ein Wellnesswochenende. Oder der wohlverdiente Jahresurlaub.
Worauf will ich hinaus? Ein achtsamer Umgang mit dir selbst ist keine Methode, um die Leistung zu optimieren. Es ist vielmehr eine Einstellung zum Leben. Achtsamkeit basiert auf Werten, Überzeugungen und der Freiheit, nicht zu müssen – nicht zu fliehen, nicht zu kämpfen, nur zu sein.
Die Verbindung von Mindfulness im Sport hat mir geholfen, Körpergefühl und Körperwahrnehmung zu entwickeln und zu verbessern. Das kann zu Reduzierung von Verletzungsanfälligkeit, Steigerung der Bewegungseffizienz, verbesserter Leistungsfähigkeit und gesteigertem Wohlbefinden führen.
In dem Moment, indem du achtsam in deinen Handlungen bist, ist der Fokus auf dem Moment. Ich konzentriere mich dann nur auf das, was gerade ansteht: den nächsten Schritt, die Atmung, das Gelände. Vergangene Misserfolge oder zukünftige Erwartungen spielen keine Rolle. Das ermöglicht mir, jede Handlung bewusst auszuführen und wirklich mit meinem Lauf verschmelzen.
Üben in Achtsamkeit schult ebenfalls eine gewisse Stressresistenz. Stressoren lassen sich nicht abschalten, wir können aber lernen, gelassener damit umzugehen. Gerade beim Laufen zeigt sich sehr direkt, wie wir mit Stress umgehen. Es gibt Momente, da läuft es nicht – der Körper ist müde, der Kopf laut, Zweifel tauchen auf.
Maik Becker erschöpft | Maik Becker beim Zieleinlauf des Hell Race
Achtsamkeit hilft mir dann, nicht sofort in Widerstand zu gehen, sondern bei einem kurzen Body Scan erstmal wahrzunehmen: Was ist da gerade? Wie fühlt sich das an? Was verändert sich, wenn ich das zulasse, statt dagegen anzukämpfen? So komme ich wieder in Kontakt mit meinem Atem, meinem Schritt, dem Moment. Der Stress wird dadurch nicht verdrängt, aber er verliert seine Macht über mich. Ich bleibe in schwierigen Situationen handlungsfähig – und genau das ist für mich Resilienz im Laufen.
Mindfulness ist als Grundlage für Nachhaltigkeit im Umgang mit sich selbst zu verstehen. Und das betrifft nicht nur uns Hobbysportler: im Spitzensportbereich sind Achtsamkeitsübungen wichtiger Bestandteil der Trainings. Erfolgreiche Sportler wissen z.B. immer, wie es in ihnen aussieht. Sie sind sich ihrer Gedanken, Gefühle und Empfindungen sehr bewusst und nehmen ihre Umgebung auf erstklassige Weise wahr. Sie entwickeln eine große Wertschätzung für ihre Fähigkeiten und kennen ihre Grenzen sehr genau. So können sie den Stress als Teil des Wettkampfes akzeptieren und sich auf das fokussieren, was sie kontrollieren können, ohne sich vom Stressor zermürben zu lassen.
„Laufen ist für mich auch eine Form der Selbstbegegnung.“
Laufen ist für mich auch eine Form der Selbstbegegnung. Wenn du stundenlang unterwegs bist – mit dir, deinem Atem, deinem inneren Dialog – lernst du dich zwangsläufig besser kennen. Und genau da spielt Achtsamkeit eine große Rolle: Sie hilft mir, hinzuhören, ehrlich zu sein mit dem, was in mir passiert. Ich nutze immer gerne die Floskel: Wenn DU dich nicht kennst – wer soll dich sonst kennen? Nur wer sich selbst versteht, kann auch mit Stress, Krisen oder Zweifeln konstruktiv umgehen – im Lauf wie im Leben.
RUNTiMES: Was hat es bei dir persönlich verändert mit mehr „Mindfulness“ zu laufen?
Maik: Für mich war das ein echter Wendepunkt. Wobei der Wortteil „-punkt“ so gar nicht stimmt. Man kommt nicht einfach an einem Punkt an, sondern entwickelt sich. Früher war ich oft im Kampf – gegen die Uhr, gegen Mitstreiter, gegen meine eigenen Erwartungen, gegen das Gefühl, nie die perfekte Leistung abrufen zu können. Ich wollte zu viel, zu schnell. Der Körper lief, aber der Kopf rannte – unermüdlich, rastlos, dem nächsten Ziel hinterher. Während meine Füße den Boden abtasteten, jagten meine Gedanken schon dem nächsten Erfolg, der nächsten Bestzeit, dem „Mehr“ hinterher. Ich war unterwegs, ohne wirklich anzukommen.
Erst als ich begann, achtsam zu laufen, hat sich etwas grundlegend verändert. Ich habe gelernt, loszulassen – den Druck, das Vergleichen, den inneren Kritiker. Ich bin nicht mehr nur gelaufen, um irgendwo anzukommen, sondern um wirklich da zu sein.
Früher war Laufen Mittel zum Zweck, um den Stress des vergangenen Tages zu verarbeiten, mich von unbewältigten Aufgaben zu lösen oder um mich mit bevorstehenden Meetings auseinanderzusetzen. Mit Achtsamkeit war Laufen kein bloßes Werkzeug mehr.
„Eine neue Leichtigkeit zog in mein Leben ein.“
Eine neue Leichtigkeit zog in mein Leben ein. Das, was sich früher schwer anfühlte, floss plötzlich. Nicht, weil ich weniger tat – sondern weil ich mehr vertraute. Manchmal sehe ich mich schwebend, wenn ich durch die Natur renne. Nicht, weil mein Laufstil dem einer Gazelle entspricht (eher das Gegenteil davon 😉). Nein, eher weil das Mühsame am Laufen sich aus meinem Leben verabschiedete. Laufen ist einfach ein Zustand des ganz Bei-mir-Seins.
Und so kam es, dass ich mit 52 Jahren meinen ersten Laufwettkampf gewann. Kein Kraftakt, kein Kampf. Es war eher ein stilles Ankommen bei mir selbst – und das hat mich ins Ziel getragen. Und hat mich überrascht. Mit weniger Kampf und Leichtigkeit zu mehr Erfolg. Das war keine Eintagsfliege: in den folgenden Wettkämpfen konnte ich meistens diese Performance abrufen. Das gelingt aber auch mir nicht immer, dafür bin ich zu viel Mensch.
Heute weiß ich: Gelassenheit ist keine Schwäche, sondern eine stille Form von Stärke.
Mindfulness hat mein Laufen verändert – und mein Leben gleich mit.
RUNTiMES: Was bedeutet und umfasst „Mindfulness“?
Maik: Beim Begriff Mindfulness geht die innere Bedeutung noch etwas weiter als beim deutschen Pendant Achtsamkeit. Die Übersetzung stammt aus dem buddhistischen und beschreibt den Begriff Sati. Dieser bezeichnet die Fähigkeit des Geistes, bei etwas zu verweilen, etwas im Gedächtnis zu behalten und mit ausgewogener Aufmerksamkeit gegenwärtig zu sein, ohne darüber nachzudenken und ohne zu bewerten.
Mindfulness steht somit eher für „Voll im Geiste sein“. Aus dieser Floskel gilt es das Sein herauszustellen. Das ist der eigentliche Kern der Achtsamkeit. Der Einfachheit halber verwende ich beide Begriffe in diesem Kontext.
Maik Becker auf der Silk Route beim Ultra Ladakh Marathon
Wer Mindfulness für sich und sein Leben entdeckt, wird oft als esoterisch oder religiös abgestempelt. In Verbindung mit Transzendenz, also einer nicht erklär- oder beweisbaren Wirklichkeit werden dabei Wunder erwartet. Tatsächlich hat Achtsamkeit nichts mit Spiritualität zu tun. Vielmehr ist es der absolute Bezug auf den Moment, das Hier und Jetzt. Yogamatte, Batik-Hippie-Hose und Räucherstäbchen sind kein Pflichtequipment, wenn man sich mit dem Thema auseinandersetzt.
Als Läufer stehe ich wortwörtlich mit beiden Beinen im Leben und schätze diese Verbindung zwischen einer der beliebtesten Sportarten und dem gegenwärtigen Augenblick. Diese simple Wahrnehmung, wenn immer möglich ohne Bewertung, Meinung oder Fantasie.
RUNTiMES: Wie gelingt es uns achtsamer zu werden, was sind erste Schritte?
Maik: Für mich beginnt Achtsamkeit dort, wo ich aufhöre zu funktionieren – und anfange, wirklich zu spüren. Es ist ein Entschluss, sich auf etwas einzulassen, nämlich auf sich selbst. Dafür braucht es keinen radikalen Neuanfang – nur den Mut, ab und zu für einen Moment innezuhalten.
„Achtsamkeit ist kein Ziel. Sie ist ein Weg.“
Die ersten Schritte sind oft ganz klein und brauchen Geduld. Bei einer Atemmeditation zum Beispiel darf man keine Wunder erwarten. Es klingt einfacher, als es ist. Vor einigen Jahren habe ich von den Vorzügen, oder besser den positiven Effekten von Meditation gehört. Konzentration und Selbstbewusstsein können entwickelt werden, Körper und Geist in Entspannung und Gelassenheit geübt werden.
Na, dann mal los! Ich habe mich auf etwas Neues eingelassen, hatte aber keine Ahnung, wie und wo ich anfangen soll. Erst mal ruhig hinsetzen. Und still sitzenbleiben. Das allein stellt schon eine herausfordernde Aufgabe dar. Stillsitzen und Nichtstun sind wir im Alltag nicht gewohnt. Die Hand zückt schnell mal das Smartphone aus der Tasche oder eine Verlockung in Form von kleinen Snacks verführt uns. Selbst beim Essen läuft der Fernseher, die Zeit kann genutzt werden, um neben der Mahlzeit die News aus Wirtschaft und Politik aufzusaugen.
Maik Becker beim Ultra Trail Angkor
Wir füllen unsere Zeit mit mehr oder weniger sinnvollen Tätigkeiten, davon dann aber auch bitte schön nicht zu knapp. Dank Zeitmanagement ist unser Leben strukturiert. Hinzu kommt: Wir fühlen uns im Wert vermindert, wenn keine effiziente Handlung ansteht. Und merken dabei nicht, wie das Leben in jedem Augenblick an uns vorüberzieht.
Ich sitze also, die Hände leicht geöffnet mit den Handflächen nach oben auf den Knien abgelegt und schließe die Augen. Atmen, das hatte ich gelesen, ist das Einzige, worauf man sich konzentrieren soll. Für die Umtriebigen sei gesagt, dass Atmen ja auch schon eine lebenswichtige Tätigkeit unseres Körpers ist. Also so ganz nichts tun ist Stillsitzen auch nicht. Der Atem fließt ein und aus. Das nehme ich in diesem Moment wahr. Es fühlt sich vertraut an. Mehr aber auch nicht.
Im nächsten Moment erwische ich mich dabei, wie meine Gedanken am Computer im Büro sind. Es gibt immer irgendetwas zu erledigen. Sie wandern weiter. Am Abend kommt Besuch. Haben wir alles im Haus, was für das Abendessen benötigt wird?
Voller Erwartung sehne ich den meditativen Moment herbei, der mich von meinen Gedanken befreien soll. Die Kinder kommen auch bald aus der Schule. Haben sie Hausaufgaben zu erledigen oder steht ein Test in den nächsten Tagen an? Immer noch keine Erleuchtung. Morgen geht es auf eine größere Radrunde. Ist das Fahrrad bereit? Und so wuselt mein Geist von einem Task zum nächsten und ehe ich mich versehe, sind die 15 Minuten um und der Timer piept.
Irgendwie war ich mir unsicher, ob das jetzt diese vielgepriesene Mediation war, die mir Entspannung und Gelassenheit bringen soll. Es gab nie den Moment, in dem ich mich frei von allem fühlte. Ich habe alles gegeben, also mich hingesetzt, geatmet und abgewartet. Aber kein Guru hat an meine geistige Tür geklopft. Enttäuscht stelle ich fest: Meditation ist nichts für mich!
Zum Glück habe ich damals nicht aufgegeben. Als Sturkopf, oder wie Laufkollegen es themenbezogener ausdrücken würden, mit ausgeprägter mentaler Stärke, bleibe ich an Dingen dran, die einmal begonnen sind. Heute weiß ich, dass keine Erwartungen mit Meditation oder Atemübungen zu verbinden sind. Es ist einfach ein Einlassen auf den Augenblick. Und das ist anfangs schwerer, als vermutet. Dranbleiben und üben, ohne Zwang, aber mit Neugier. Mit der Zeit entdeckt man die Tiefe in der Achtsamkeit, diese bessere Verbindung zu sich selbst.
Achtsamkeit ist kein Ziel. Sie ist ein Weg.
RUNTiMES: Was hilft dir bei der Emotionsregulation vor einem Rennen oder in stressigen Alltagsphasen?
Maik: Emotionen sind ein wichtiger Teil des Sports. Und Sport ist ein geeignetes Ventil, Emotionen herauszulassen. Sie gehören zum Sport wie der Atem zum Laufen. Freude, Wut, Nervosität, Enttäuschung, Euphorie – all das ist Teil der Aktivität, des Wettkampfs, des Trainings. Emotionen können uns antreiben, uns über Grenzen hinauswachsen lassen. Aber sie können uns auch blockieren, wenn wir zu sehr an ihnen festhalten.
„Ich bin nicht meine Emotionen – ich habe sie.“
Für mich war es ein wichtiger Lernprozess zu verstehen: Ich bin nicht meine Emotionen – ich habe sie. Früher haben Emotionen mein Denken und Handeln beeinflusst. Nervosität, Selbstzweifel oder der Druck, „abliefern“ zu müssen, waren wie Wellen, die mich mitgerissen haben. Heute, durch bewusste Auseinandersetzung habe ich verstanden, was da in mir eigentlich passiert.
Die meisten Emotionen entstehen in unserer Alarmzentrale – automatisch und oft übermächtig. Das ist evolutionär sinnvoll: Angst, Wut, Aufregung – sie haben uns früher vor Gefahren geschützt. Aber im heutigen Kontext – etwa vor einem Rennen – führen diese unbewusst oft zu Anspannung, Leistungsdruck oder Verkrampfung.
Die Reaktionszentrale in einem anderen Teil unseres Gehirns wartet mit entsprechender Wirkung auf. Darauf kann ich Einfluss nehmen. Ich kann die Emotion entweder so hinnehmen (ich bin nervös) oder durch Atmung, Achtsamkeitsübungen und einfaches Umbenennen (ich denke, ich bin nervös) Einfluss darauf nehmen und sie abschwächen. Dieser kleine Abstand macht einen riesigen Unterschied. Ich habe es also selbst in der Hand, wie ich mit der Emotion umgehe. Ich erkenne: Meine Alarmzentrale sendet Signale – danke für die Information – aber ich bin nicht in Gefahr.
Gerade im Wettkampf – aber auch im Alltag, wenn der Druck steigt, ist es entscheidend, nicht gegen Emotionen anzukämpfen, sondern sie bewusst wahrzunehmen. Nervosität ist kein Gegner – sie ist ein Zeichen, dass mir etwas wichtig ist. Wut kann Energie sein, wenn ich sie lenke. Freude ist eine Aufnahme des Moments – sie ist vergänglich. Emotionen sind keine Störung des Systems, sie sind Teil davon. Wenn ich aufhöre, sie kontrollieren zu wollen, und stattdessen lerne, mit ihnen zu kommunizieren, finde ich Zugang zu einer viel tieferen, freieren Form der Leistung.
Emotionale Stärke im Sport heißt für mich nicht, immer ruhig zu bleiben – sondern zu wissen, wie ich mit innerer Unruhe, Zweifeln oder Aufregung umgehen kann, ohne die Verbindung zu mir selbst zu verlieren.
Schlussendlich geht es nicht nur um körperliche Fitness – sondern auch um emotionale Klarheit. Denn wer innerlich bei sich bleibt, läuft nicht nur leichter – sondern oft auch weiter und länger. Ein aktiver Lebensstil hat nachweislich einen positiven Einfluss auf die Lebensdauer – und nicht nur auf die Quantität des Lebens, sondern auch auf seine Qualität.
RUNTiMES: Welche Übung findest du selbst besonders wirksam und würdest du uns auch empfehlen?
Maik: Die folgenden Übungen sind nur ein Auszug von 33 Übungen zum Thema Achtsamkeit, die im Buch „Mindfulness für Läufer“ beschrieben sind. „Mindfulness für Läufer“ für 22,95 Euro bei Amazon kaufen*
Sämtliche der Anleitungen sollen helfen, Mindfulness in den Alltag zu integrieren. Die zeitlichen Angaben darin sind Empfehlungen. Wie quantitativ intensiv die Übungen ausgeführt werden, ist dem Ausführenden überlassen. Das Training des Bewusstseins dient der Achtsamkeitsförderung und Stressregulation und sollte zusätzlich zur sportlichen Aktivität angewendet werden.
Regelmäßiges Wiederholen resultiert in einer positiven inneren Einstellung. Wie bei jedem Training bedarf es Konstanz. Dabei dürfen nicht zwingend umgehend messbare Ergebnisse erwartet werden. Es geht stets einzig um den Moment der Ausübung.
- Farbenfokus beim Laufen
- 5-Finger-Methode
- Lächelnd laufen
- 5-Minuten-Morgenroutine
RUNTiMES: Einmal im Jahr empfiehlst du eine Selbstreflexions-Übung („Wer bin ich?“ S. 25) – wie funktioniert diese und was verändert sich dadurch?
Maik: Die Beschäftigung mit dem „Wer bin ich?“ endet in einer Lebensphilosophie. In dem Moment, in dem du keine eigene hast, werden andere eine über dich entwickeln. Jeder hat seine eigenen Vorstellungen, was er mit seinem Leben anfängt. Sinnvoll ist ein oft benutztes Adjektiv, wenn wir danach gefragt werden, wie wir unsere Zeit auf Erden füllen wollen. Und oft sind sinnvolle Dinge nur außerhalb der Komfortzone erreichbar.
Soziale Medien zeichnen häufig ein verzerrtes Bild der Realität. Unsere Identität
unterliegt dabei einer fremdbestimmten Bewertung. Diese zu nah an sich heranzulassen, lässt Zweifel an der eigenen Einschätzung der Persönlichkeit aufkommen. Kommentare und Likes nehmen Einfluss auf unsere Ausrichtung im Leben. Immer wieder erfolgt der Klick auf das Userprofil in der Hoffnung, weitere Likes erhascht zu haben. Externer Stress, der sich durch Besinnung auf den Moment abschalten lässt.
Wenn Laufen als Sport dein Leben bereichert, lohnt es sich, diese sportliche Komponente in deine Philosophie aufzunehmen und somit der Bewegung Raum im Leben zu geben. Erst das Einlassen auf eine Ebene der Selbstbetrachtung und Selbstachtung ermöglicht eine bewertungsfreie und damit auch stressfreie Herangehensweise an den sportlichen Ausgleich. Es ist ein Hineinwachsen in deine eigene Läufergeschichte. Ein Aufblühen mit Blick Richtung Sonne. Dinge fallen leichter, wenn wir sie mögen. Und, was du gerne tust, gelingt dir besser.
Mit dem Wissen der Antwort auf die Frage „Wer bin ich?“ kann eine Vision erstellt
werden. Es läuft dabei nicht zwangsläufig auf eine Veränderung der Persönlichkeit hinaus. Vielmehr dient diese Identität der Einstufung, wo Sport und gezielt das Laufen einen Platz in der Lebensidee finden. Grundprinzipien werden dargestellt. Bereits dieser Moment, diese eine Minute Zeit für die Beantwortung der Frage „Wer bin ich?“ ist ein Üben in Achtsamkeit. Indem alle Medien ausgeschaltet sind und dein Fokus einzig auf dich selbst und deine Gedanken gerichtet ist, schenkst du dir Zeit und Achtung. Wenn du es nicht selbst machst? Wer soll dir diesen Zeitraum Lebensqualität sonst einräumen?
„Streiche Dinge aus deinem Leben, die du nicht bist.“
Das Training mit Mindfulness hilft, Fähigkeiten zu entwickeln, ein Bewusstsein zu schaffen, was du bist und was du sein möchtest. Besinnung auf das Wesentliche im Hier und Jetzt. Streiche Dinge aus deinem Leben, die du nicht bist. Und verwirkliche solche, die dich ausmachen sollen.
Diese Lebensphilosophie muss auch gar nicht in Stein gemeiselt sein. Ich empfehle die Reflexion etwa einmal pro Jahr. Das hängt ein wenig vom individuellen Lebensrhythmus ab.
Fotos: Hell Race; ACTREME
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