„Frauen sollten keinen Marathon laufen!“

Ein Gespräch mit der Siegerin des ersten Berlin-Marathons 1974

Der 50.Berlin-Marathon feiert das größte Lauf-Fest der Welt! Mehr als 54.000 Läufer aus 161 Nationen sind am Wochenende beim 50. Berlin-Marathon erfolgreich ins Ziel gekommen – und haben Sportgeschichte geschrieben: Denn der Berlin-Marathon darf sich mit dieser enormen Finisherzahl zum größten Lauf der Welt beglückwünschen. Was einst mit 286 Teilnehmern bei einem kleinen Volkslauf in Grunewald begann, hat sich zu einem Massen-Sport-Event entwickelt. Wie anders die Welt vor 50 Jahren für Läuferinnen aussah, und wie es ihr heute noch in den Füßen kribbelt, erzählt uns die Siegerin des ersten Berlin-Marathons 1974 Jutta von Haase.

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Der Berlin-Marathon 2024 in Zahlen | Ausstellung MOVE am Brandenburger Tor

Jutta von Haase, geboren im Jahr 1939, hat viel erlebt. Die musikalische und laufbegeisterte Richterin im Ruhestand traute sich vor 50 Jahren als eine von 10 Läuferinnen, den 1. Berlin-Marathon zu laufen und kam sogar als Schnellste ins Ziel.

Siegerin des ersten Berlin-Marathons Jutta von Haase

Erster Berlin-Marathon 1974: Jutta von Haase und Bernd Hübner | Foto: Bernd Hübner

Sie war selbst zuvor noch nie solch eine Distanz gerannt und wusste nicht recht, was auf sie zukommt: „Ich trug Schuhe damals, damit würde man heute keinen Meter rennen, und ich musste nach dem Marathon ja zu einer Ausstellung und abends noch zu einem Konzert. Da machte sich dann doch ein ordentlicher Muskelkater bemerkbar, konnte nur noch rückwärts die Treppen gehen!“, erinnert sich die Berlinerin schmunzelnd.

„Mit meinen Schuhen von damals würde man heute keinen Meter rennen!“

Dass in diesem Jahr rund 58.000 Läuferinnen und Läufer aus der ganzen Welt zum Marathon in Deutschlands Hauptstadt angemeldet haben, bringt die Berlinerin ins Staunen. Als Jutta damals den Berlin-Marathon zum ersten Mal lief, war es eine andere Welt: „Es war ein einsames Rennen, wir sind einsam gelaufen. Die Strecke war natürlich eine andere und es war insgesamt eine komplett andere Zeit damals!

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50. Berlin-Marathon 2024: Treffen zur Jubiläumsveranstaltung und Ausstellung im MOVE am Brandenburger Tor

Ich kannte außer mir nur eine einzige andere Marathonläuferin. Es war in meiner Jugendzeit ungewöhnlich, dass Frauen laufen. Ich war aber schon immer sehr bewegungsfreudig. Aber wenn ich dann im Wald joggte und Leute überholte, erschreckten die sich jedes Mal ganz fürchterlich. Ich konnte machen, was ich wollte, ich habe gerufen, bin auch manchmal vorsichtig an ihnen vorbei „geschlichen“, aber es kamen immer seltsame Kommentare und irritierte Reaktionen.

Sprüche wie: „Hopp, hopp!“ oder „Wem läufst du denn hinterher?“ gab es zuhauf. Und als ich dann beim 1. Berlin-Marathon 1974 auftauchte und zum Startbereich ging, fragte mich ein bekannter Läufer. „Ja wie, was machst du denn hier?“ Ich habe geantwortet: „Ich versuche es mal…!“ Er hat nie wieder was gesagt, ich war schneller als er…“ (Jutta lacht)

Für ihren Sieg gab es damals keine Geld-Prämie. „Ich bekam eine Art Bronzeplatte mit einem Schloss drauf,“ erinnert sich Jutta, „aber das war völlig in Ordnung. Ich war einfach überglücklich und habe mich sehr drüber gefreut.“

Laufen galt als schädlich für den weiblichen Körper

Dass Frauen Marathon laufen war in den 70er-Jahren hoch umstritten und galt als gesundheitsschädlich für den weiblichen Körper. Es hielten sich die absurdesten Gerüchte, wie zum Beispiel, dass die Gebärmutter bei längeren Strecken herausfallen könnte und dass Frauen körperlich für solche Anstrengungen einfach nicht in der Lage seien. Wenn es um Wettkämpfe ging, war für Frauen eine maximale Strecke von 2,4 Kilometern erlaubt.

Erst wenige Jahre zuvor hatte die US-Amerikanerin Kathrine Switzer 1967 für Furore gesorgt, indem sie als Mann verkleidet beim Boston-Marathon teilgenommen und als erste Frau einen Marathon mit offizieller Startnummer absolviert hatte – was zu dieser Zeit noch verboten und undenkbar war.

Die Renn-Aufsicht versuchte sie während des Rennens noch aufzuhalten und von der Strecke zu ziehen, doch Kathrine Switzer schaffte es mit Hilfe ihres Freundes (ein ehemaliger Footballspieler und Hammerwerfer), sich nicht aufhalten zu lassen und bis ins Ziel zu rennen. Sie hat damals Sportgeschichte geschrieben und den Weg für andere Läuferinnen, wie Jutta von Haase, frei gemacht.

Die Zeiten haben sich geändert, mittlerweile machen Frauen beim Berlin-Marathon fast 35 % des Startfelds aus. Bei Marathonveranstaltungen in den USA sind es oft schon 50%.

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Berlin-Marathon 1974 bis 2024 | Medaillensammlung

Die ersten 1000 Meter

Doch wie kam Jutta von Haase überhaupt auf die Idee Läuferin zu werden? Die Berlinerin erklärt ihre Laufanfänge so: „Ich war immer ein bewegungshungriges Mädchen und habe in der Schule gemerkt, dass ich gut laufen kann. Irgendwann wurde von einem Lehrer gefragt, wer bei einem kleinen Volkslauf mitmachen will, ich glaube, das war eine Strecke über 1000 Meter. Da habe ich mich direkt gemeldet und gesagt, dass ich dabei sein will.

Mein Läuferdasein fing also sachte und langsam an, es war damals ja noch sehr selten, dass Mädchen rennen. Es hieß immer wieder, dass Frauen bloß nicht länger als 800 Meter laufen sollten. Ich bin auch für eine lange Zeit nicht länger als 800 Meter gelaufen, dann steigerte ich mich auf 2 Kilometer, schließlich auf 5 Kilometer und so ging es immer weiter.

Und ich habe in der Nähe des Grunewalds gewohnt. Das war ein Geschenk. Ich glaube nicht, dass ich zu so vielen Laufstrecken gekommen wäre, wenn ich mitten in der Stadt gewohnt hätte.“

Jutta hat nach ihrem Marathon-Debüt 1974 noch fünf Mal den Berlin-Marathon absolviert. Ihren letzten Marathon bestritt Jutta im Jahr 1985, danach musste sie aus gesundheitlichen Gründen aufhören.

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Es kribbelt immer noch in den Füßen

Als ich Jutta von Haase frage, ob es ihr heute noch in den Füßen kribbelt, wenn sie Läufer sieht, nickt sie sofort: „Ja, unbedingt. Herrschaftszeiten nochmal, ich bin immer so gern gelaufen. Es ist für mich ganz schlimm an der Strecke zu stehen und nur zuzuschauen, ich kann ja nicht mehr laufen, zumindest keine langen Strecken. Da sind zwei Seelen in meiner Brust. Ich musste irgendwann aufhören. Aber ja, es kribbelt immer noch, es kribbelt, kribbelt, kribbelt in den Füßen. Das hört wahrscheinlich auch nie auf.“

Die Berlinerin ist nie woanders Marathon gelaufen, nur in ihrer geliebten Heimat Berlin. Sie hätte sich ein Leben woanders nicht vorstellen können: „Im Grunewald zu laufen ist wunderbar, ich hatte dort alles, was ich brauchte.“

Siegerin des ersten Berlin-Marathons

Neben dem Laufen hat Jutta von Haase noch eine große Leidenschaft: Musik und Kunst. Sie spielt selbst Klavier und Cembalo und ist ein großer Klassik-Fan. Im vergangenen Jahr ist ihr Mann verstorben. Im Alter, sagt sie, muss man Loslassen lernen. Das gehöre zum Leben dazu.

Wir sagen: Vielen Dank für das Gespräch und alles, alles Gute!

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