Laufen ohne GPS, aber mit Gespür – Florian Jägers Zwischenläufe
Was passiert, wenn ein promovierter Psychologe, Läufer und Autor seine Wege nicht nur mit den Beinen, sondern auch mit Sprache erkundet? In „Zwischenläufe“ begibt sich Florian Jäger auf literarische Laufstrecken – durch Städte, Wälder, Erinnerungen. Seine Texte sind poetische Verdichtungen des Unterwegsseins und führen an Orte, die man mit dem bloßen Laufschuh nicht erreicht. Im Gespräch mit RUNTiMES spricht Jäger über das Spannungsverhältnis zwischen Stadt und Natur, den psychologischen Blick auf sich selbst – und darüber, was passiert, wenn Literatur und Laufen ein gemeinsames Tempo finden.
Zwischenläufe von Florian Jäger erschienen im Februar 2025
Laufen zwischen Stadt, Natur und Sprache
Wie Wahrnehmung und Bewegung bei Florian Jäger ineinandergreifen
RUNTiMES In deinen Texten verschwimmen oft die Grenzen zwischen Stadt- und Naturerlebnis – in einer Berlin-Passage flanierst du, in einer Sizilien-Kolumne wanderst du durch den Nebel. Wie verändern sich deine inneren Wahrnehmungen beim Laufen in urbanem Raum im Vergleich zu hochalpinem Gelände – und wie lässt sich dieses Spannungsverhältnis literarisch fassen?
Florian Jäger Das ist eine spannende Frage. Ich würde sagen, unabhängig vom Terrain ist mein Blick beim Laufen in ständiger Korrespondenz zwischen Innen- und Außenansichten. Er schwankt immer zwischen auf der einen Seite einem genauen Beobachten der Umgebung, dem plötzlichen Bemerken von Details – und auf der anderen Seite dem ganz konkreten Wahrnehmen der physiologischen Auswirkungen, dem schnelleren Atem, der spürbaren Muskelanspannung.
Aus dieser Korrespondenz entsteht für mich eine ganz eigene Form der Wahrnehmung, eben die Wahrnehmung aus dem Laufen heraus, aus dem Vorbeilaufen, aus dem Durchlaufen, manchmal beinahe rauschhaft. Für das Laufen an sich, unabhängig vom Terrain gilt für mich, dass es mich in derselben Bewegung von der Welt entfernt und näher zu ihr heranbringt. Ob ich durch Stadt, Land oder Fluss laufe, ob ich flaniere oder vagabundiere – das sind für mich alles Nuancen in der Korrespondenz, letztlich dieselbe Sache betreffend.
Hinzu kommt, dass man an sich überall, sowohl in der Stadt als auch in den Bergen einfach so draufloslaufen, dem umgebenden Raum naiv begegnen und dadurch immer Neues entdecken kann. Für mich ist das Entscheidende, was die genannte Korrespondenz ermöglicht und gleichzeitig Ausdruck von ihr ist: große Neugier, Offenheit und Aufmerksamkeit.
Aus dieser Haltung entsteht überhaupt erst die Wahrnehmung oder Korrespondenz von Wahrnehmungen, die in Sprache übertragen poetisch wird, die sich unabhängig von festgelegten kategorialen Zusammenhängen bewegt.
Das Spannungsverhältnis ist für mich vom Prinzip also ein anderes: zwischen einem offenen, neugierigen und naiven Laufen auf der einen Seite und einem mit bestimmtem Zweck versehenen, wie Wettkämpfe zu bestreiten oder sich selbst zu optimieren.
In den Kolumnen probiere ich immer wieder neue Formen aus, diese erste Art des Laufens abzubilden. Währenddessen vermute ich, dass vielen Lesenden zunächst noch die zweite Art des Laufens näher liegt. Dazwischen liegt die Spannung. Literarisch schaffe ich die, indem ich gewohnte Ebenen aus dem Laufen herausnehme, ungewohnte Verbindungen schaffe, die Lesendenerwartungen zwar erahnen kann, sie aber absichtlich unterlaufe – und neben dem Inhalt auch immer Form und Sprache in eigener Weise laufen lasse.
Über den Autor
Florian Jäger ist promovierter Psychologe, Autor und Läufer. 2018 hat erin einem 100-Kilometer-Ultraberglauf die Zugspitze umkreist und 2019 ist er Dritter beim München Marathon geworden. Er hat Literarisches Schreiben an der Universität Hildesheim studiert. Im Frühling 2021 hat er das literarische Laufbuch „Im Rhythmus des Laufens“ veröffentlicht. Er lebt, läuft und schreibt in Freiburg im Breisgau, in Berlin und im Unterwegs.
Psychologie auf der Laufstrecke: Der Blick nach innen
Warum Florian Jägers Texte mehr als sportliche Momentaufnahmen sind
RUNTiMES Du bist promovierter Psychologe – spielt psychologische Reflexion bewusst eine Rolle in deinen Erzählungen? Gab es einen Lauf, der Dir ein psychologisch überraschendes oder völlig neues Verständnis deiner selbst geliefert hat?
Florian Jäger Auch wenn ich mich stark übers Schreiben definiere, merke ich immer wieder, wie sehr mein Blick ein psychologischer ist. Mein Verständnis von der Welt ist durch psychologische Theorien und Fragestellungen geprägt. Auch meine Haltung ist dadurch geprägt: Ich habe ein großes Interesse am Verstehen der Welt, gleichzeitig schätze ich meine Autonomie, nicht verstehen zu müssen, nicht vom Verstehen abhängig zu sein.
Beim Schreiben meiner Texte wende ich das nicht bewusst an – aber ich weiß ohnehin, dass es mitläuft, ob ich will oder nicht. Wird die psychologische Auseinandersetzung einmal zu deutlich versuche ich allerdings, sie mit literarischen Mitteln wieder subtiler zu machen. Vielleicht finde ich das sogar am spannendsten an meinem Schreiben, wie der psychologische und der literarische Blick sich immer wieder spielerisch in neue Verhältnisse setzen.
Bei psychologisch überraschenden/besonderen Läufen muss ich gleich an drei denken: Den München Marathon 2019, bei dem mein Körper auf der Stadionrunde kurz vor Einlauf gestreikt hat, ich keinen Muskel mehr bewegen konnte – und der Wille mich, wenn auch verlangsamt, trotzdem ins Ziel gebracht hat: Auf der Ziellinie war mein Kopf dem Körper weit voraus, auf Fotos kann man das deutlich sehen.
Der zweite Lauf ist mein erster Ultra, die 100-Kilometer-Strecke des Zugspitz Ultratrails. Als ich hinterher über mein Erlebnis erzählen wollte, war ich extrem überrascht, wie viel ich von dem Lauf schon vergessen hatte. Das kannte ich nicht. Natürlich war es irgendwie logisch, ich war ja auch über sechzehn Stunden unterwegs gewesen, aber gleichzeitig war es ja nur ein einzelner Lauf und außerdem mein erster Ultra – ich hatte alles aufsaugen und bis ins kleinste Detail erinnern wollen.
Am Ende war ich zwar tatsächlich wie ein komplett vollgesogener Schwamm, aber einer, der längst kein Wasser mehr hatte aufnehmen können und aus dem Erinnerung herausgetropft war. Ich kann nicht einmal genau sagen, wieso, aber mich hat das sehr beeindruckt, wie deutlich und tiefgreifend meine Erinnerungen an den Lauf waren – wie wenig Zeit sie dabei gleichzeitig von ihm abdeckten.
Der dritte Lauf liegt erst ein paar Wochen zurück. Es war mein erster Backyard Ultra – also ein Lauf-Format, bei dem die Teilnehmenden Stunde für Stunde etwa 6,7 Kilometer laufen, bis nur noch eine Person übrig ist -, Midsummer Run in Freiburg. Ich bin recht offen und ohne bestimmte Vorstellungen an den Lauf herangegangen und habe erst währenddessen – weil wir uns in den Gesprächen, die wir Runde für Runde führten, immer wieder dazu befragt haben – überlegt, was ein Ziel für mich sein könnte.
Nach etwa sechs Runden hatte ich es: Ich laufe so lange, bis ich wirklich gute Gründe habe, es nicht mehr zu tun. Das hat sich gut und richtig für mich angefühlt. Ich glaube, da habe ich etwas über mich gelernt, das über das Laufen hinausgeht.
Zwischen Resonanz und Rhythmus: Was „Zwischenläufe“ bei Lesern auslöst
Von Strava-Fans bis Literaturfreunde
RUNTiMES Welche Rückmeldungen von Lesern haben dich besonders überrascht oder berührt? Gibt es Begegnungen, in denen du gespürt hast, dass Deine Zwischenläufe mehr ausgelöst haben als bloße Laufbegeisterung?
Florian Jäger Ich habe gerade erst von einem Buchhändler die Rückmeldung bekommen, dass er das Buch seinem Cousin geschenkt hat und der wirklich dadurch begeistert mit dem Laufen angefangen hat und immer noch genauso begeistert dabei ist. Spannend ist, dass dieser Cousin liebend gerne seine Ergebnisse auf Strava hochlädt – während das Buch ja gerade von einem Laufen außerhalb solcher Mess- und Teilrituale erzählt. Ich liebe daran, dass anscheinend beides gleichzeitig funktionieren und motivieren kann.
Was mich besonders glücklich gemacht hat, ist außerdem, dass Schriftsteller-Kolleginnen, die nichts oder sehr wenig mit dem Laufen am Hut haben, mir berichteten, dass die Texte sie berührt haben, sie sehr lustvoll mit dem Rhythmus des Textes mitgegangen sind, und auf einmal selbst so etwas wie Interesse am Laufen entwickelt haben.
Und dass auf der anderen Seite Leute, deren ein und alles Laufen ohnehin schon war, plötzlich ihr eigenes Gespür für Sprache und ungewöhnliche Form entdeckt haben und als Folge der Lektüre anders auf ihr eigenes Laufen schauen. Mich freut es ungemein, die Welten Laufen und Literatur ein Stück weit zusammenzubringen.
Wir bedanken uns herzlich für das Interview!
Fotos: Andi Frank | LOWA Trail Trophy 2025
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